6. Tag

 

Bis zur Herberge habe ich es gestern nicht mehr geschafft und darum in einem Hostal übernachtet. So habe ich heute etwas mehr als  20 km vor mir. Das ist ja einfach!! .... dachte ich auch. Ist es auch ... erst noch.

 

Vor allem, weil ich endlich, endlich auch einmal ein Stück keinen Asphalt unter den Füßen habe. Von A Coruna bis hier ging es nur auf Straßen und fast ausschließlich durch Häuser. Ich finde solche Routen immer furchtbar anstrengend. Da werden die Füße von Schritt zu Schritt schwerer, weil ... ja ich glaube, einfach nur weil es ihnen langweilig ist. Ich mag einfach lieber Naturwege, je schmaler und steiniger, desto lieber.

 

Jetzt endlich kommt ein Stück Wald und ich bin ganz glücklich! ... Bis sich der Camino ganz fürchterlich für dieses Glück rächt. Es geht kilometerweit bergauf, immer links Häuser, rechts oberhalb Eukalyptusanpflanzungen, oben die Sonne, kein Schatten nirgendwo und kein Ende in Sicht. Erst bin ich ja noch zuversichtlich, ich weiß es ja nicht besser. Dann mache ich mir Musik in die Ohren und versuche immer weniger erfolgreich ... ähm ... mitzuträllern. Dann geht selbst das mir auf die Nerven. Ich mache eine Rast auf einer verdiestelten Zufahrt zu den Bäumen (nein, nachdem ich an 148 Zufahrten vorbeigelaufen bin und immer vergeblich auf eine mit weniger Gestachel gehofft habe, habe ich aufgegeben), aber wirklich erholen kann ich - hatte ich das mit dem fehlenden Schatten schon erwähnt? - mich nicht.

 

 

Endlich, endlich bin ich "oben", kreuze eine Straße und bin guter Dinge: Dieser Anstieg kann ja nun nicht mehr sooo lange sein! Dann trete ich ein bisschen aus den Bäumen heraus und sehe den Weg, wie er sich liebevoll eine Kuppe hinaufschlängelt ... und weiß noch nicht, dass das hier gerade ein bisschen ist wie ein Eisberg, nur umgekehrt: Ich sehe nur den kleineren unteren Teil. Aber das, was ich sehe, reicht mir auch so schon vollkommen. Ich will nicht ungnädig sein, denn immerhin geht es jetzt zwar weiter mäßig aber stetig bergauf, aber doch sehr viel netter durch den Wald und auf weichem Boden. Dennoch knabbere ich irgendwand wirklich an meiner Grenze, werfe mich seitlich ins Gebüsch und überlege, ob ich gleich sterben soll oder sofort.

 

Just da bekomme ich eine Nachricht von meiner Herde: Sind angekommen! - Das sage ich euch: Das mache ich nie wieder! Nie wieder verlasse ich eine Herde, in der ich mich so wohlgefühlt habe, um mutterseelenallein und von allen lieben Geistern verlassen durch die Prärie zu schlappen. Nie wieder!

 

 

 

 

 

 

Dan bin ich dann aber tatsächlich oben, es wird bequemer und am Ende noch einmal richtig schön, geht durch übermannshohen Ginster und Wacholder zur Straße und zu einer Bar, in die ich total ausgehungert und auf absolutem Zuckerentzug einfalle. Ich bestelle einen Schokoriegel, Kuchen, eine Cola, einen Kaffee und nehme mir für die Zeit bis zum Bringen ein Eis aus der Truhe. Dann setze ich mich in die Sonne, ziehe meine Schuhe aus und lege die Füße hoch. Als die Dame meine Bestellung bringt, guckt sie sich suchend um. Wo denn der andere wäre? - Der andere was? - Der andere Pilger. - Welcher andere Pilger? - Na, für den der Kaffee und der Kuchen sind! - Jetzt muss ich doch mal lachen. Hallo! Sehe ich so aus, als wenn ich einen zweiten Pilger brauchte, um das alles aufzuessen und auszutrinken?! Ich schaffe das ganz alleine! Und unterstehe sie sich, auch nur daran zu denken, mir etwas wieder wegzunehmen! Ich brauche auch gar nicht lange, denn ich muss ja noch nach Hospital de Bruma.

 

Schon habe ich meinen Rucksack wieder gebuckelt und ... Ich kann euch gar nicht sagen, wie lustvoll ich weiterstapfe. Pest und Cholera sind nichts gegen meinen "schwungvollen" Schritt! Hämorrhoiden, Fußpilz und Akne sind nichts gegen meinen ... Unmut. Ich ich scheine irgendwie das f-Wort hinter mir herzuziehen ... jedenfalls hält schon nach wenigen Metern ein Herr neben mir an und wirft all die Dinge, die er so auf dem Beifahrersitz herumliegen hat, nach hinten. Ich überlege erst noch: Ich, allein, ein Mann, ein Auto, niemand weiß, wo ich stecke ... Ich gucke nach vorne: Weg, Weg, Weg, erst Asphalt, hässliches Umspannwerk,  den Rest kenne ich ja schon. ... Ich gucke ins Auto: Sitz, Räder drunter, Moter brummt. ... Ich gucke den Herrn an ... und beschließe schlicht, an das Gute in diesem Menschen zu glauben ... und werde nicht enttäuscht. Im Gegenteil:  Ich könnte den Señor küssen dafür, dass er mich zur Herberge fährt. Tu ich aber nicht. Ich will ja nicht, dass die Menschen anfangen, sich vor liebestollen Pilgerinnen zu fürchten! Dann kriegen womöglich schon Kinder beigebracht: Wenn du Mal groß bist und Auto fährst, dann nimm niemals eine Frau mit Rucksack mit! Denen kann man noch nicht einmal trauen, wenn man das Weiße in ihren Augen sehen kann! Nimm dich vor ihnen in Acht!

 

 

 

Es ist mir zwar ein bisschen unangenehm, direkt vor der Herberge aus einem Auto zu steigen und dann auch noch "la ultima", die Letzte, zu sein, die ein Bett bekommt, aber für Unpeinlich hat noch niemand einen Blumentopf gewonnen, ich habe ein Bett (inzwischen ist der "Schimmel" hoffentlich erfolgreich bekämpft) und ich möchte jetzt nur noch duschen und vor allem nicht einen Meter mehr laufen. So.

 

Beim Beziehen wird mir ein bisschen krüddelig im Bauch, so ein bisschen, wie seekrank.  Über die Reling spucken fällt hier allerdings .... Ach, lassen wir das.

 

Ich bin ja froh, denn hier ist schier die Hölle los! Wenn ihr denkt,  der Camino Francés ist überlaufen, habt ihr noch nicht gesehen, was sich hier alles tümmelt! Hier treffen sich nämlich die Pilger aus Betanzos und Presedo - die einen später, die anderen früher .... und dazwischen gibt es ja noch mich aus A Coruna. Heute bin ich noch die Einzige von dort, aber wenn sich das herumspricht, dass man ab dort auch die Compostela bekommt, dann wird es hier richtig lustig!